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Kolumne: Die Weiterentwicklung des Selfies

Ich bin heute auf eine schon ältere, allerdings irre Fotostrecke einer Fotografin aus Korea gestoßen: Sie macht Selfies, allerdings nicht von oben rechts im Badezimmer, vor dem Spiegel oder beim Posen vor irgendwelchen sinnlosen Werbeplakaten am Flughafen, nein, sie balanciert hunderte von Metern über den Dächern. Ich habe schweißnasse Hände und frage mich: Wird es immer jemanden geben, der etwas toppen kann?

Versteht ihr, was ich meine? Da ist immer wer, der eine Aktion, ein Statement, eine Idee toppen kann. Es gibt immer jemanden, der einen Tick besser ist. Es wird nie aufhören, dass irgendjemand schneller ist, als alle anderen. Und mit seinem simplen, aber genialen Einfall nun Millionen verdient.
Einerseits finde ich das super. Über sich und andere hinauszuwachsen ist die Voraussetzung, sich stetig zu verbessern. Sonst wäre die Technik nicht da, wo sie heute ist und wir alle würden immer noch an einem nicht portablen Computermonster sitzen – wenn wir überhaupt einen hätten – und 15 gähnende Minuten darauf warten, dass das knackende Modem eine Verbindung hergestellt hat. Fortschritt macht Sinn, über die Grenzen hinauswachsen ist super. Juhuu, alle freuen sich.

Aber. Na klar aber. Was ist mit uns, den Otto-Normalbürgern? Wenn ich abends im Bett liege und mir eine spannende Idee einfällt, dann sehe ich am nächsten Tag, dass es das leider schon gibt. In irgendeiner Form hat das schon längst jemand anderes gemacht. Und diesen Tick zu langsam zu sein, den kennen glaube ich ganz viele.

In einer Welt, in der es irgendwie alles schon gibt, was schenkt man da der Mama, die irgendwie alles hat? Fängt man vielleicht wieder von vorne an? Sollten wir die Entwicklung am Anfang starten und beispielsweise zum Geburtstag wieder basteln oder einen Gutschein schreiben für „fünf mal staubsaugen“? Oder vielleicht ein Selfie schenken?

Ich finde es manchmal schwierig und ermüdend, in einer so unglaublich konsumorientierten Welt zu leben, in der es lediglich darum geht, dass jeder einzelne das Beste und Neueste hat und den anderen damit übertrumpfen kann. Als ich vor ein paar Wochen gesehen habe, dass das iPhone 5 gar nicht mehr hergestellt wird, dachte ich, ich spinne. Und wenn ich wiedermal höre, dass sich irgendein idiotischer Promi eine Insel kauft und sie somit allen anderen Menschen auf dieser Welt verweigert, frage ich mich wirklich: Geht’s eigentlich noch? Stoppen wir uns irgendwann auch mal selbst und treten – in manchen Bereichen zumindest – einen Schritt zurück?

Ich finde die Fotos der Künstlerin atemberaubend. Sie hat das dümmliche Selfie, das einfach nur zeigt, wie sehr wir alle auf uns selbst stehen, in etwas sehr Kreatives umgewandelt. Ob es dazu auch sinnvoll ist, wage ich nicht zu betiteln, aber das muss Kunst auch nicht. Trotzdem sieht man anhand dieser Fotostrecke, dass einfach alles möglich ist. Du kannst dich sprichwörtlich so weit du willst aus dem Fenster lehnen. Du kannst dabei auch fallen, aber wenn du wieder aufstehst, dann kann es sofort weitergehen.

Wir Menschen sind kreativ und schlau genug, einen sehenswerten Fortschritt hinzulegen. Allerdings ist das Gefühl, immer ein Stückchen weiter und schneller und besser sein zu müssen, als die Mitmenschen, genau der Stein, der schon in unserem Weg liegt: Wir wissen nicht, wann wir aufhören sollten. Den Denkapparat mal anschmeißen.

Die Grenzen verschwimmen. Einerseits bin ich großer Fan. Andererseits möchte ich mich gerne bei dem Gedanken verstecken – vielleicht hinter einem riesigen Modem.

Foto: Anika Landsteiner

Anika Landsteiner
Anika Landsteinerhttps://anikalandsteiner.de/
Anika Landsteiner wurde 1987 geboren und arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Als Kolumnistin nimmt sie uns mit auf ihre gedanklichen Reisen und gibt uns immer wieder neue Denkansätze.

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