Ein Gebäude, das auf einem morschen, unsoliden Boden erbaut wird, kann keineswegs einem Erdbeben oder auch nur einer leichten Erschütterung standhalten. Ganz im Gegenteil wird es wie prädestiniert in sich zusammenstürzen, wie es ein Kartenhaus einer vorbeistreichenden, leichten Brise gleichtun würde. Zunächst werden die Fassaden bröckeln und allmählich wird das sonst so prächtige Denkmal der Gewalt von außen nachgeben und weichen, bis die einzelnen Bestandteile des architektonischen Kunstwerkes brachliegen und entblößt zu Vorschein treten.
Ähnlich verhält es sich mit der Menschheit, die von Zeit zu Zeit wie ihre Bauwerke ins Wanken geraten und hin und wieder in ihre Einzelbestandteile zerfallen. Genau das ist eine der unvermeidlichen Konsequenzen, die beispielsweise durch die Verdrängung der persönlichen Vergangenheit, um nur eine Ursache von unzähligen Realisierungen aufzuzählen, wahrwerden kann. Eine Wirklichkeit, der man entfliehen möchte und nicht ins Auge blicken mag. Doch wirft man einen prüfenden, tiefen und langen Blick in genau diese Augen, so hat man eine reelle Chance auf Heilung und auf die Hoffnung, dass die Zukunft besser werden kann.
Betrachtet man die eigene Vergangenheit als Fundament, auf dem das Haus errichtet werden soll, welches wir an dieser Stelle mit dem heutigen Ich gleichsetzen, so kann es sein, dass das Ich bereits zu Beginn einen instabilen Boden erhält. Wichtig ist dennoch die Prüfung des Bodens, bevor man das Haus darauf erbaut. Denn wer sich vor dem Vergangenen, welches die Grundlage für das Haus darstellt, fürchtet und zeitgleich versucht davor zu fliehen, darf sich nicht auf Obdach und Obhut im morgigen Tag freuen.
Das Vorhaben und die Erwartung dem bereits Geschehenen zu entkommen, was sich im Klartext auch Verdrängung nennt, kann über lange Dauer nicht zur Erlösung führen. Nur wer mit seiner persönlichen Historie im Reinen ist, wird für das in der Zukunft wartende adäquat gewappnet und bereit sein. Lernaufgaben, deren Ursprung in der Vergangenheit liegen, sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich wie kaum ein anderer Bereich des Lebens. Während der eine Mensch lernen muss was Liebe bedeutet, muss der andere womöglich die Überwindung des eigenen Egos bewältigen und ein weiterer hingegen muss beides zugleich meistern.
Doch woher weiß man, was die eigenen übergeordneten Aufgaben sind und wer sagt uns, was im Lebenstest abgefragt wird? Die Vorbereitung auf diese Klausur gleicht beinahe einem Hexenwerk, denn niemand erzählt uns, was uns wirklich erwartet. In der Tat ist die Antwort hierauf eine Frage der Geduld. Unser Leben und die Erfahrungen, die wir darin machen, lenken uns zu ihnen, ohne dass wir auch nur den blassesten Schimmer haben, wie und wann wir nun dort hingekommen sind und was wir letztendlich hier machen. Meist ist aller Anfang eines solchen Weges das Scheitern und Versagen auf dem Weg, den wir voller Überzeugung gehen und ursprünglich für richtig hielten.
Wissen wir nicht, welchen Pfad wir bei der Karrierefindung einschlagen sollen, hilft uns unser Umfeld voller Tatendrang und aus diesem Grund begeben wir uns tatkräftig auf den Holzweg. Warum Holzweg? Weil es keine eigene und autonome Entscheidung aus uns selbst heraus war. Natürlich tut es unser Umfeld nicht aus Boshaftigkeit, sondern eher im Gegenteil aus Nächstenliebe. Sie wollen uns helfen, da sie unsere Ratlosigkeit zur Kenntnis nehmen und schlagen uns somit vor, was wir nun alles werden könnten, im beruflichen Sinne versteht sich. So sind mir unter anderem Berufe wie Sozialarbeiter, Lehrer, Wirt, Therapeut und Steward nahegelegt worden. Alles schöne Berufe, keine Frage, aber nicht das, worin ich mich selbst gesehen hätte. Es hat Jahre gebraucht um zu realisieren, dass Kreativität in irgendeiner Form zu meinen Interessen und Fähigkeiten gehört.
So ähnlich geht es den Menschen aus meinem Umfeld leider auch. Nahezu ein jeder von ihnen kämpft mit der Vorstellung, die ihre eigene Familie oder ihr Freundeskreis über ihr Leben hat. Während Hinz und Kunz Pläne über dein Leben schmieden, bleiben deine Wünsche und Träume bezüglich des Lebenswegs aus. Wie soll man sich denn in einer Welt, in der alles Erdenkliche in Hülle und Fülle angeboten wird, bloß entscheiden können? Es gibt unzählige Berufe und genauso viele Chancen bei der Partnerfindung. Wir leben sozusagen in einem globalen Entscheidungsparadies, das sich für die weniger entscheidungsfreudigen Menschen wie eine Hölle anfühlt. Die Folge dessen ist ein unbestimmter Aufenthalt im Limbus, der uns beherbergt, bis wir uns entscheiden.
Ein Teil des sogenannten First World Problems. Zu viele gute Optionen und Wege gepaart mit entscheidungsschwächeren Menschen und schon haben wir eine Gesellschaft, die nichts mehr entscheiden kann und möchte. Die Bevölkerung ist nämlich geplättet vom Überangebot des 21. Jahrhunderts und verrutscht ins Jammern.
Dummerweise wird es mit der Entscheidungsabnahme nicht besser, denn dadurch wäre unser Leben fremdbestimmt. Nun befinden wir uns in der Zwickmühle. Schließlich hätten wir jetzt eine weitere Aufgabe, die von uns erfüllt werden muss. Das korrekte und angemessene Nein sagen. Das Ablehnen der Erwartungen und Vorschläge von außen scheint eine der wohl kompliziertesten und dennoch einfachsten Dinge dieser Welt zu sein. Es ist doch bloß eine lächerliche Kopplung von vier Buchstaben und die Aussprache dieses Buchstabensalats. Was im Alter von zwei Jahren unser Lieblingswort zu sein schien, ist heute das Unwort schlechthin geworden. Ein simples Nein wird nun beinahe mit einer Beleidigung gleichgesetzt. Unfassbar, dass das nun zur Königsdisziplin wird.
Bleiben wir Ja-Sager, enttäuschen wir einen wichtigen Menschen und zwar uns selbst, doch sagen wir zu allem und jedem Nein, scheint es so, als ob wir unser Umfeld im Stich ließen. Wieso ist das so? Und wann haben wir das Nein sagen verlernt? Es scheint fast so als ob wir Ja aus Nächstenliebe sagen würden. Ironischerweise täte uns und unseren Nächsten ein Nein gar nicht so schlecht. Es wäre ein Nein aus Selbstliebe und somit wieder ein Ja zu uns selbst! Verwirrend, nicht wahr? Wir sind wie paralysiert vor der Macht und Aussagekraft des Wortes Nein und genau aus diesem Grund lassen wir es lieber sein. Möglicherweise ist es ein Mangel an Selbstliebe, denn man hat uns weisgemacht, dass Liebe mit Konditionen verbunden ist. Deshalb haben wir Angst, jemandem den wir mögen zu widersprechen. Man könnte der ganzen Thematik natürlich die Frage, „Was soll denn großartig beim Versäumen der Verneinung passieren?“, entgegenbringen. Sagen wir es mal so, es ist ganz unterschiedlich, kann aber fatale Ausmaße annehmen.
Ein Pakistaner, den ich einst kennenlernen durfte, erzählte mir, dass seine Eltern konkrete Vorstellungen über seine private Zukunft haben. Er solle doch bitte eine Pakistanerin heiraten, die sie ihm ausgesucht hätten. Und hiermit hätten wir den Beginn eines Dilemmas, denn er hatte sich seine Partnerfindung anders vorgestellt. Trotz seiner Wünsche, Vorstellungen und Hoffnungen dominierte am Ende die Erwartungshaltung der Familie und das Resultat war ein junger Mensch, der zu einer Geißel seiner eigenen Familie wurde. Er sagte Ja, um seine Verwandtschaft nicht zu enttäuschen, jedoch glücklich ist er nicht. Wie zum Henker soll es einem Individuum möglich sein, wahrhaftig und richtig lieben zu können, wenn die Eltern ihm in der Kindheit kein solides Fundament durch Wertevermittlung und richtige Erziehung nahegelegt haben? Wie kann Nächstenliebe und Liebe in der Partnerschaft realisiert werden, wenn Selbstliebe nicht gegeben ist? Und kann man überhaupt Liebe zum Partner entwickeln, den jemand anderes für einen ausgesucht hat?
Ein Ansatz zur Erlernung dieser Lebensgrundlagen wäre ein therapeutischer, ein weiterer vielleicht ein spiritueller Weg. Daraus folgert, dass es keinen glücklichen Ausgang im Morgen geben wird, ohne die Hausaufgaben von gestern zu erledigen. Sei es das Wiedererlernen vom Nein sagen oder die mühselige Reflexion der eigenen Vergangenheit. Und oft stellt man fest, dass alle dieser Lerninhalte miteinander verknüpft sind.
Selbst wenn Ablenkung, sei es durch Alkohol oder ständige Reizbeschallung durch Freizeitaktivitäten, verlockend erscheinen mag, ist es tatsächlich keine langfristige Methode und somit kein Ausweg. Je länger wir es hinausschieben, umso schwieriger scheint die Bewältigung der subjektiven Chronik. Und ehe wir uns versehen, ist aus der kleinen Hürde eine Herkulesaufgabe geworden. Aufgeschoben ist sehr wohl aufgehoben, denn durch diese Mañana–Mentalität gelangen wir nicht rechtzeitig zum Ziel und müssen später eine viel schwierigere Aufgabe meistern. Dieser teils selbstverschuldete Schneeballeffekt kann einen dann schon Kopf und Kragen kosten, wenn man es plötzlich mit einer Lawine zu tun hat. Da wünscht man sich doch glatt den Schneeball herbei, nicht wahr?
Eben das ist der springende Punkt, das Leben spielt sich im Hier und Jetzt ab und erwartet eine klare Ansage von uns. Vage Aussagen und schwammige Entscheidungen sind kontraproduktiv.
Denn auf die Frage aller Fragen, kannst du nicht mit „Ja, ich werde möglicherweise wollen“, antworten.
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