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Kolumne: ticktackticktack

Vor ein paar Wochen hatte ich einen Artikel darüber geschrieben, wie scheiße ich YOLO finde und den Zeitdruck beziehungsweise die faule Kunst der Ausrede dahinter, man müsse alles erleben, und zwar pronto. Daneben begleitet mich allerdings das Zitat „Das Problem ist, dass wir glauben, genügend Zeit zu haben“ jeden Tag, weil es jemand an eine Fließe in meinem Bad geschrieben hat. Und nun?

Gestern im Spanischunterricht hat die wunderbare Paula aus Peru mir erklärt, wann ich welchen Ausdruck von „sein“ verwende. Da wäre nämlich „ser“, wenn ich etwas immer und grundsätzlich bin und da wäre „estar“, wenn etwas vorübergehend oder gerade so ist. Sie hat es mir an dem Beispiel erklärt: „Ani, du bist nicht immer traurig, das geht vorbei. Also nutzt du estar.“ Und ich kam ins Schwanken.

Ich nickte. Und schluckte einen Kloß hinunter, weil hinter meinem Lächeln sich Traurigkeit verbarg. Ich war gerade traurig. Und ich hoffte, zu wenig Zeit dafür zu haben, damit ich schnell wieder glücklich sein konnte. Und für das Glücklich-Sein buchte ich zeitgleich mein ganzes nachfolgendes Leben.

Wir gehen oftmals mit der Zeit ins Gericht und verurteilen sie für alles Mögliche. Beispielsweise, wenn der Traumurlaub schon nach zwei Wochen vorbei ist und wir gerade erst angefangen hatten, uns zu entspannen. Aber liegt es nicht an uns, von Tag 1 alles aufzusaugen und bewusst zu genießen? Wir verfluchen sie auf der anderen Seite, wenn sie zu lange andauert und wir uns in einer Phase befinden, in der es uns beispielsweise nicht gut geht. Blame it on the Zeit. Und schon müssen wir uns nicht selbst aufrappeln und etwas gegen die brodelnden Gefühle in uns tun, sondern wir können Dinge sagen wie: Es ist einfach noch so lange hin, das macht mich immer traurig. Oder: Morgen ist erst Dienstag, wie soll ich das denn schaffen?

Ich kenne das zu gut. Die Zeit der Vorfreude liebe ich und die Zeit nach einem glücklichen Ereignis verteufele ich. Wir werden durch sie immer daran erinnert, dass alles vergänglich ist, dass an jedem Morgen ein neuer Tag beginnt und die Spuren von gestern leise verwischt. Ob wir wollen oder nicht, wir befinden uns in einem Kreislauf, der uns ironischerweise eigentlich nur helfen möchte. Er will uns zeigen, dass alles halb so wild ist, dass es morgen schon wieder anders aussehen könnte und dass, natürlich, die Zeit alle Wunden heilt.

Also: Haben wir nun genügend oder viel zu wenig? Ich denke, die Antwort liegt in uns selbst: Wir haben genau die Zeit, die wir brauchen. Denn ist euch schon mal aufgefallen, dass wenn man die Zeit, die einem gegeben wird, sinnvoll nutzt, man meist alles schafft, was verlangt wurde? Dass Deadlines helfen können, denn mit Druck arbeitet es sich meist leichter? Und dass wir manchmal in Phasen stecken, von denen wir uns wünschen, sie wären schon gestern vorbeigewesen, aber wir irgendwann merken, dass wir diese Zeit einfach gebraucht haben. Für was auch immer.

Ich finde YOLO weiterhin scheiße. Weil ich genügend Druck von außen bekomme, da muss ich mich nicht noch selbst unter Druck setzen. Genauso sieht’s aus, wenn mir jemand daherkommt und mir sagen möchte, dass ich zu viele Stunden der Sonnenuhr gebunkert hätte. Ich kann eben die Zeit, die mir persönlich gegeben wird, nicht beeinflussen. Aber ich kann versuchen, das Beste daraus zu machen. Und zwar pronto.

Foto: CLOCK TOWER von John Goode via flickr.com, cc by 2.0

Anika Landsteiner
Anika Landsteinerhttps://anikalandsteiner.de/
Anika Landsteiner wurde 1987 geboren und arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Als Kolumnistin nimmt sie uns mit auf ihre gedanklichen Reisen und gibt uns immer wieder neue Denkansätze.

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