StartLifestyleKolumneKolumne: Love, Wiesn.

Kolumne: Love, Wiesn.

Die letzten zwei Wochen herrschte in München Ausnahmezustand. Mit dem Oktoberfest ist es wie mit Weihnachten. Man weiß ganz genau, wann es kommt, wie einnehmend und zeitraubend es sein kann… und am Ende steht es trotzdem mit einem großen Paukenschlag vor der Tür. In früheren Jahren war es für mich absolute Pflicht und ich verbrachte mehrere Tage dort. Mittlerweile bin ich ruhiger geworden und habe sogar mein Dirndl verkauft – nichtsdestotrotz plaudere ich gerne aus dem Nähkästchen: Über die Wiesn und die Liebe, eine explosive Kombination.

Ich habe Männer erlebt, die vor meinen Augen ihren Ehering abgenommen und in der Tasche haben verschwinden lassen. Ich habe Männlein und Weiblein erlebt, die unglaubliche fünf Minuten miteinander geredet, beziehungsweise sich angelallt haben, und danach unter der Bierbank verschwunden sind. Je kürzer das Dirndl, desto weniger ist es ein Teil der eigentlichen Tradition, funktioniert bei ausländischen Grabschern aber immer noch am besten.

Brust raus, Beine zusammen war übrigens immer meine Devise, sobald ich auf der Bierbank stand.

Auf dem Oktoberfest kann einfach alles passieren. Du kannst als umsorgender Familienvater ein Zelt betreten und es als mehrfacher Ehebrecher verlassen. In Rekordzeit, da kommen die meisten selbst gar nicht mit. Weil einfach alles erlaubt ist und weil sich jeder an den Codex hält: Was auf der Wiesn passiert, bleibt auf der Wiesn.

Du kannst allerdings als Single auch einfach nur Spaß haben und deine Dating-Pleiten der letzten Tage, Wochen, ach was – Jahre! – vergessen. Hier muss sich keiner an irgendwelche Regeln halten und du musst dich nicht besonders herausputzen, denn ein tolles Dekolleté ist weniger überzeugend, wenn es sowieso jeder trägt. Du musst auf keinen Anruf warten, weil das besagte Flirtopfer sowieso über Stunden hinweg neben dir sitzt, zwischendurch vielleicht mal eine Runde schläft, aber darüber sieht man ja hinweg. Du musst dich auch nicht mit der quälenden Frage herumschlagen müssen, wie du deinem Gegenüber erklärst, dass er ein schlechter Küsser sei und du seit zwei Stunden kein Wort seines seltsamen Dialektes verstanden hast. Geht er auf die Toilette, stehen die Chancen eh gut, dass er gar nicht mehr zurückkommt, und du schnappst dir einen süßen Typen,der hauptberuflich Bayer ist und von dem ganzen Zirkus was versteht.

Ani denkt - Wiesn

Und dann ist da noch die Option mit der wahren Liebe. Ich stand mal tanzend und singend mit Freundinnen auf der Bank, als sich ein Mann zu uns umdrehte und sich kurze Zeit später schunkelnd an unserem Tisch fand. Noch mal kurze Zeit später knutschte er schon mit meiner Freundin und ich kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Das Ende der Geschichte? Sie sind seit fünf Jahren ein Paar, leben mittlerweile gemeinsam in Berlin. Und ja, das ist nicht nur eine von vielen Liebesgeschichten made by Wiesn. Wie gesagt, alles ist möglich. Kann erschreckend sein, aber auch Türen öffnend. Zum Beispiel die von Zelten. Kennt man einen Kellner im Zelt oder den Code für das Hintertürchen, hat man immer eine Chance, mit seinen Liebsten die heiligen Hallen zu betreten. Wenn nicht, muss draußen geknutscht werden. So schwer es manchmal ist, in ein Zelt und dann noch an einen Tisch zu kommen, so leicht ist es, zu flirten, sich die Maß ausgeben lassen und hier und da ein bisschen zu busseln. Ja mei, so herzlich können sie sein, die Ur-Bayern.

Wenn jedoch ein Australier oder Engländer daher kommt, barfuß und über und über mit Bier besudelt, dann kann der Akzent noch so süß sein, da heißt es: Haltung bewahren, umdrehen, gehen. Denn als Frau sollte man immer stilvoll sein. Man muss ja nicht unbedingt eine von vielen sein, wenn man sowieso schon so angezogen ist wie alle anderen.

 

Fotos: Anika Landsteiner

Anika Landsteiner
Anika Landsteinerhttps://anikalandsteiner.de/
Anika Landsteiner wurde 1987 geboren und arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Als Kolumnistin nimmt sie uns mit auf ihre gedanklichen Reisen und gibt uns immer wieder neue Denkansätze.

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