Während Erdogan für seine Bürger Twitter sperren lässt, sitze ich in Medellín, der Stadt, die in den 80er Jahren als die Gefährlichste der Welt deklariert wurde. Noch vor 10 Jahren sind hier die Panzer durch die Anwohnersiedlung gefahren, in der ich derzeit wohne. Und ich komme nicht dran vorbei: An dem typischen Reiseeffekt, dankbar zu sein für das, was man zu Hause hat…
…beziehungsweise, was uns in Deutschland (noch) nicht genommen wird.
Können wir uns überhaupt vorstellen, dass es vielleicht mal jemanden geben könnte, der einen Meldedienst wie Twitter sperrt und dadurch so dermaßen dreist und verständnislos in unser Privatleben eintritt? Schließlich nutze ich beispielsweise Twitter lediglich für meine Arbeit, das heißt, wenn ich nicht mehr twittern darf, dann fällt ein Prozentsatz meiner Arbeit weg. Das würde im weitesten Sinne bedeuten, dass dadurch nicht nur meiner Privatsphäre, sondern auch der erwirtschaftete Teil, den ich dem deutschen Staat beisteuere, eingeschränkt wird. #aufschrei
Vieles, eigentlich alles, erscheint uns in Deutschland komplett selbstverständlich. Handynetz in der U-Bahn. Fortbewegungsmittel, die uns innerhalb kürzester Zeit an die verschiedensten Ecken bringen. Die riesige Auswahl an Drogeriemärkten, die es gibt. Gleichgeschlechtliche Liebe ohne Wenn und Aber.
Und genau dadurch haben wir obendrauf auch noch die Chance, reisen gehen zu können. Wir besitzen – egal, wie arm oder reich wir sind, denn reisen kann jeder mit jedem Budget – die Möglichkeiten, uns diese Welt anzuschauen und zu reflektieren, dass es abseits dieses kleinen Fleckchens ganz anders aussieht. Zwar gibt es an anderen Plätzen vielleicht Traumstrände oder exotischere Gerichte oder generell optische Tribute, die das vida eben loca aussehen lassen. Aber blicken wir dahinter, sprich biegen wir mal in die Seitenstraßen unserer Wahrnehmung ein, sehen wir Probleme, die wir so nicht kennen, deren Ausmaß wir uns nicht vorstellen können und – das ist das Wichtige – auch gar nicht wollen.
Wer möchte eingesperrt oder auf der Straße bespuckt werden, weil er sich in jemanden verliebt hat, in den er sich offiziell nicht verlieben darf? Wer will aus dem Haus gehen und das Erste, was er sieht, ist ein vorbeifahrender Panzer mit Soldaten bis unter die Zähne bewaffnet? Wer möchte erkennen müssen, dass er seinen voller harmloser Sinnlosigkeit verpassten Tweet nicht abschicken kann, weil dort, wo er lebt, das mittlerweile verboten ist?
Ich nicht. Aber ich will lernen zu schätzen, dass es ein Geschenk ist, dass ich das hier schreiben darf, ohne dafür ins staatliche Visier genommen zu werden. Und das lerne ich immer und einzig auf Reisen. Leider, leider, leider hält es meist nur ein paar Tage nach Ankunft in Deutschland an. Dann falle auch ich in die europäische Arroganz zurück und rege mich auf, wenn sich das Internet schon wieder aufgehängt hat. Anstatt – wie die Menschen hier in Kolumbien – in Cafés und an den Straßen zu sitzen und Spiele zu spielen, sich zu unterhalten oder ein Picknick zu machen.
Ich möchte überhaupt nicht mit erhobenem Zeigefinger vorgehen. Möchte gar keinen Appell starten und nichts verbessern, denn am schlimmsten finde ich diejenigen, die nach ihren Reisen zurückkommen und so tun, als hätten sie neuerdings die Weisheit mit dem Löffel gefressen, nur weil sie lediglich in ein paar abgefuckten Hostels übernachtet oder an einem einsamen Strand eine Zigarre geraucht haben.
Ich möchte lediglich Teil haben lassen an meinen sich verändernden Gedanken und an der Tatsache, dass wir die Intelligenz besitzen, unseren Fokus zu verändern. Wir können von verschwommen auf scharf stellen. Das kann man dann auch übrigens twittern. Zumindest hier, #vielenDankdafür.
Foto: Anika Landsteiner