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Kolumne: Auf den Fersen…

Der Wecker klingelt, der Kopf dröhnt, die Knochen knacken, die Augen öffnen sich und der Traum von der letzten Nacht, oder besser gesagt das Revue passieren lassen dessen im Standbymodus, verpufft, denn der Alltag ruft und so platzt die erotische Blase. Gott sei Dank gab es diesmal keinen Walk of shame, denke ich mir und schleppe mich halb gelähmt, halb pflichtbewusst in einem tranceähnlichen Zustand ins Bad. Denn schließlich wäre auch ein Catwalk ummantelt in Scham mit dem derzeitigen Muskelkater in den Körperregionen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie für den zwischenmenschlichen Akt von Nöten wären, wohl eher utopisch. Das Einzige das nicht schmerzt, sind Gesicht und Füße, was meine Glanzleistung der gestrigen Nacht widerspiegelt. Im Anbetracht der Tatsache, dass ich mich stark und mit großen, ja schon fast zu großen Schritten, auf die 30 bewege, war das tatsächlich eine Glanzleistung.

Stolz und einigermaßen gesellschaftstauglich mache ich mich auf den Weg zum morgendlichen Kaffeekränzchen. Beeilen muss ich mich, denn schließlich möchte man zum Gossip bei früher Stunde, begleitet von einem Cappuccino mit Sojamilch, nicht die Freundin, die ähnlich wie ein Nestling mit den neuesten Informationen gefüttert werden möchte, versetzen. Da bekommt das Sprichwort “Morgenstund hat Gold im Mund” eine ganz andere Bedeutung. Ich denke prompt an das Sprichwort “der frühe Vogel fängt den Wurm”, doch halte das im Rückblick auf gestern Nacht mehr für ein Ammenmärchen. So schwinge ich mich halb im Delirium, halb vom Restalkohol geplagt auf den Sattel meines Fahrrads. Los geht‘s.

Angelangt im sozialen Hotspot, entgeht meiner Freundin mein hämisches Grinsen so ganz und gar nicht. Mit einem “Na?” entgegnet sie meinem Grinsen, wohlwissend, dass ich sogleich vom gestrigen Fang, meiner australischen Errungenschaft berichten werde, lehnt sie sich entspannt dennoch erwartungsvoll zurück. Während diverser Variationsmöglichkeiten im Bereich meiner Mimik, welche im Sekundentakt der von mir wiedergegebenen Erzählung variieren, versucht meine Freundin der Informationslawine von vergangenener Nacht zu folgen, um somit jegliche Details in eine chronologische Reihenfolge einordnen zu können. Ihre Gesichtsausdrücke variieren ebenfalls wie meine, sie ergeben schon fast eine Art hart einstudierte Choreographie im Zusammenspiel mit meiner Mimik.

Ein wohl interessantes Szenario spielt sich nun vor den Augen diverser Gäste ab, die sich mit uns beiden in dem Ort des Geschehens aufhalten. Und so wird der Gastraum zur Bühne. Geplagt von deutscher Diskretion und angetrieben von viel zu großer Neugier, hören uns die Mitinsassen scheinbar unauffällig, doch in Wahrheit auffällig zu. Manch einer findet sich wohl in meiner Erzählung wieder und einen Augenblick lang bin ich gewillt “kennt ihr auch, nicht wahr?”, zu rufen doch verkneife es mir noch gerade. Die Blicke und die peinliche Stille der Anderen ignorierend, führe ich meinen äußeren Monolog fort. Hin und wieder bemerke ich dann doch die Präsenz der Mitinsassen und stelle ihr äußerst individuelles Erscheinungsbild mit leichter Irritation meinerseits fest. Bunter könnte es nicht sein. Rhabarbersaftschorle trinkende Mütter mit grauem Haaransatz und multiplen Kinderwagen gefüllt mit dutzenden Maltes, Fridas, Emilias und Davids beleben das Café. Abgesehen hiervon zieren skurrile Gestalten in erdfarbenen Nadelstreifenanzügen die Eckpfeiler des Gastraumes. Und nicht zu vergessen die verlorenen Seelen der Stadt, die bereits morgens um neun auf Tour sind. Ganz klar zu erkennen an geschwollenen Gesichtszügen und olfaktorischen Fahnen, welche sich in alle Himmelsrichtungen schwingen und sich wahlweise aus Whisky, Bier, Weinschorle oder einem trendy Aperitif zusammensetzen. Prost!

Am Höhepunkt meiner Erzählung und Übelkeit angelangt, sehe ich eine mir vertraute Silhouette kombiniert mit vertrauten Gesten und Gang. Mir stockt der Atem, denn damit hätte ich zu früher Stunde nicht gerechnet. Mir schießen diverse Fragen durch den Kopf. “Wohin geht er?” “Wer ist die hübsche Frau an seiner Seite?” “Müsste er nicht schon abgereist sein?” Sicherlich würdest du dir die gleichen Fragen stellen, zumindest eine davon. Alles Grübeln und Kopf zermartern bringt nichts, denn Antworten müssen her. Ja, ich brauche Antworten. So springe ich energiegeladen auf, hetze in angemessenem Tempo zur Kasse, während ich meine Freundin damit beauftrage, sich anzuziehen und auszutrinken, und zahle. Irritiert, aufgeregt und geschockt verlassen wir das Café und die Hetzjagd beginnt. Mit ähnlichem Elan und Energieaufwand müsste sich wohl auch die Hexenjagd vor einigen Jahrhunderten abgespielt haben. Die Distanz und die Frisur wahrend, verfolgen wir die beiden. Schließlich möchte man ja nicht auf frischer Tat ertappt werden.

Das Undercover-Verhalten gestaltet sich schwieriger als Gedacht, denn die Freundin durchlöchert mich beim brisanten Galopp mit zahlreichen Fragen. “Wohin gehen wir?” “Was ist los?” “Warum hetzen wir so?” “Würdest du nun endlich meine Fragen beantworten?!” Lässig und halb außer Atem entgegne ich: “Entspann dich, du wirst gleich deine Antworten bekommen.” Die Frage, die sich mir stellt ist, ob sie mich für bekloppt halten oder verständnisvoll reagieren wird. Während des Marathons muss ich prompt an meine schulischen Leistungen im Fach Sport denken, denn der gefürchtete und gleichzeitig ebenso gehasste Cooper-Test war für mich mehr zumutend als zumutbar. Hätte ich damals ansatzweise den gleichen Biss und den langen Atem von heute bewiesen, wäre meine Leistung sicherlich nicht mangelhaft gewesen. Ja, Prioritäten richtig setzen war bis heute noch nie so ganz mein Ding, doch gewiss bin ich auch hiermit nicht allein. Wer auch immer “der Weg ist das Ziel” sagte, muss ein Narr sein oder zumindest nicht Kondition des Einzelnen bedacht haben! Bestimmt ist dieser Mensch nicht wie von der Tarantel gestochen dem Wurm von gestern Nacht nachgerannt!

Die Frisur und das Outfit zurechtzupfend stehen wir nun da. Unmittelbar hinter den beiden in der Kaffeeschlange. Nun pocht auch mein Herz ohne Pause. Allerdings weiß ich einfach nicht, ob es an der sportlichen Höchstleistung des heutigen Morgens liegt oder ob es nun doch die Aufregung vor dem ist, was mir nun bevorsteht. Tja, da muss ich dann wohl durch, denn schließlich habe ich mir die Suppe selbst eingebrockt. Die verdächtige Blondine stellt sich mit dem australischen Wurm zur Seite und wir sind nun am Zug. Ich bestelle eiskalt zwei heiße Cappuccini und bin so gelassen nach außen wie noch nie. Mein Auftreten gleicht wohl im jetzigen Moment einem Serienmörder. Gelassen, kalt, ignorant, berechnend und emotionslos warte ich auf unsere Cappuccini, bemerke natürlich im Blickwinkel, dass der Wurm und die Blondine hinter uns gewandert sind und tue dennoch so, als ob ich rein zufällig in das gleiche Café einmarschiert, mehr gesprintet, bin. Unsere Bestellung ist fertig, nun kann der erste Akt beginnen. Ich drehe mich um 180 Grad, ignoriere dabei den vollkommen verstörten und hilflosen Blick meiner Freundin. Vorhang auf, Manege frei!

Ein “Hi, welch Zufall! Du auch hier?” kommt mir über die Lippen. Mit der gleichen Überzeugung wie in den vergangenen Vorstellungsgesprächen meines Lebens, spiele ich die Hauptrolle in dem heutigen Stück. Ein oberflächlicher Dialog in Form eines Smalltalks folgt. Das Wetter, das Outfit und die Tagesplanung folgen im Programm. Mit einer letzten Bemerkung zu der Brosche, die den rubinroten Pullover meines Fanges schmückt, ziehe ich mich aus dem Gespräch zurück. Schließlich möchte man ja Mystik und Zauber wahren. Ich beende dieses affektierte Schauspiel mit einem provokanten Halbkuss auf den Mund und stolziere erneut aus dem Café. Meiner Freundin dämmert es inzwischen, mit dem gleichen Unterton wie beim anfänglichen “Na?”, sagt sie: “Oh mein Gott, Männer sind genau wie Frauen!” Und erklären muss ich ihr nun wirklich nichts mehr, denn sie hat bereits alles durchschaut, richtig kategorisiert und verstanden.

Nun stellen sich mir diverse Fragen. Warum sind wir so? Den kühlen Schein der Gleichgültigkeit wahrend ziehen wir durch das Leben und versuchen, keinem Menschen, der uns emotional, rational oder rein physisch tangiert, auch nur das kleinste Gefühl von Bedeutung und Zuneigung zu zeigen. Ja nicht das Gesicht verlieren, lautet die Devise. Du bist lieber gewillt, einen Menschen von dannen ziehen zu lassen, anstatt ihm auch nur das kleinste Lächeln zu schenken. Ob das die (un)logische Konsequenz von Dating-Plattformen aus dem Netz ist? Wir entfremden uns, ganz gleich ob Mann oder Frau, denn hierin sind wir alle gleich und gar nicht so individuell wie wir oder auch du denken magst. Denn du siehst den Menschen von letzter Nacht, bist aber zu stolz eben dieser Person zu schreiben. Also forcierst du eine äußerst unnötige, irritierende und stressige Situation hervor, nur um zu wissen, wie dein Gegenüber nun auf dich reagiert. Du begibst dich auf eine Verfolgungsjagd und bist auf den Fersen deines letzten Hookups, anstatt einfach dein wahres, authentisches Ich sprechen zu lassen. Denn selbstverständlich möchte sich keiner die Blöße geben.

Weder du noch ich, ganz gleich ob Mann oder Frau.

Foto: predraze / Getty Images

Umut Akcay
Umut Akcay
Umut, vom Bosporus ab ins idyllische Heidelberg, wo er sich dachte, er könne ja mal Germanistik studieren. Er kennt mehr Worte, als Langenscheidts komplette Enzyklopädie. Kaum jemand nimmt sich so oft selbst auf die Schippe und ist dabei gleichzeitig noch so zurückhaltend selbstkritisch.

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